Dieser Artikel wurde zuletzt am 30. August 2019 aktualisiert.
“Gut festhalten”, ruft der Fahrer freundlich aber bestimmt. Zweimal läutet er in kurzen Abständen an der Glocke und kurbelt dann am Fahrschalter. Ganz sanft, nur mit einem leichten Poltern, setzt sich die alte Straßenbahn aus dem Jahre 1901 in Bewegung. Sie sieht noch genauso aus wie vor über 100 Jahren und fährt heute Besucher durch das Beamish Museum in der Nähe von Newcastle.
Das Museum ist das größte Freilichtmuseum Englands und und zeigt wie das Leben im Norden Großbritanniens zwischen 1820 und 1940 aussah. Kostümierte Angestellte in damaliger Tracht erwecken das Museum zum Leben. Ob in einer alten Stadt aus dem Jahre 1900, einer Zechensiedlung aus der gleichen Periode oder in einer Farm aus dem Zweiten Weltkrieg – überall fühlt sich der Besucher, als wäre er auf einer Zeitreise.

Viele der alten Gebäude standen ursprünglich woanders. In liebevoller Restaurationsarbeit wurden sie ab- und im Museum wieder aufgebaut. Ausgestattet mit zeitgenössischen Möbeln, Maschinen und Alltagsgegenständen fühlt sich der Besucher beim Betreten so, als würde er selbst in der damaligen Zeit leben.
Das Museum ist ein lebendiges Museum, das fast komplett ohne Vitrinen oder Infotafeln auskommt. Viele kostümierte Angestellte und Freiwillige lassen einen realistischen Blick in die Vergangenheit zu. Ein Zahnarztgehilfe erklärt, wie damals Zähne gezogen wurden, ein Bergmann nimmt Besucher mit in eine alte Zeche und Landfrauen zeigen traditionelle Handarbeit.
Das Beamish Museum hat sich zum Ziel gesetzt, Geschichte im vollen sozialen Kontext erlebbar zu machen. Dazu gehört auch, dass nicht nur einzelne Gebäude sondern immer komplette Themenbereiche gezeigt werden.
Diese Zielsetzung zeigt sich vor allem im Nachbau einer kleinen Stadt aus dem Jahre 1900. Dort werden nicht nur Wohnhäuser und Geschäfte gezeigt, sondern auch eine Zahnarztpraxis, eine Bank, ein Rechtsanwaltsbüro, eine Autowerkstatt, eine Druckerei, ein Süßigkeitenladen, eine Bäckerei, eine Drogerie oder ein Fotograf. Wer will kann dem Bäcker beim Brotbacken zuschauen, sich mit den alten Bankiers über Finanzen unterhalten oder sich mit einem alten Bus durch die Gassen fahren lassen.
Auf die gleiche Art wurde auch die alte Zechensiedlung errichtet. Von der Lampenstube bis hin zum Schacht können Besucher hier schauen, wie es zur Zeit der Industrialisierung im Norden Englands aussah. Wer will, bekommt einen Helm auf und kann in einen nachgebauten Flötz kriechen, wo verkleidete Bergmänner erklären, unter welchen Bedingungen damals unter Tage gearbeitet wurde. Daneben gesellen sich die Ställe für die Grubenpferde, Wohnhäuser der Bergmänner, eine Schule, eine Kirche und ein traditioneller fish and chip shop, in dem Besucher für ein Mittagessen oft Schlange stehen.

Viele weitere Themenbereiche wie das Bahnhofsviertel um die “Rowley Station” präsentieren sich in einer ähnlichen Art. Rund um den niedlichen Bahnhof, der ursprünglich tatsächlich in dem kleinen Ort Rowley im County Durham stand, wurde all das errichtet, was zu einem reibungslosen Ablauf im Bahnverkehr um die Jahrhundertwende gehörte. Ob Stellwerk, alte Fußgängerbrücke, Betriebswerk mit Kohlelagern und Lok- sowie Güterschuppen – alles ist hier vorhanden. Während der Hauptsaison zuckelt sogar eine alte Dampflok durch die Szenerie und begeistert dabei nicht nur junge Besucher.
Zeitgeschichtlich jüngstes Themengebiet im Museum ist eine Farm aus dem Jahre 1940. Hier wird gezeigt, welche Bedeutung die Landwirtschaft in den Kriegsjahren hatte, da man in England eine Seeblockade durch deutsche U-Boote fürchtete und deshalb mehr eigene Nahrungsmittel produzieren musste, statt sich auf Importe zu verlassen. Tatsächlich ist sogar die Farm lebendig. Schweine grunzen in ihren Ställen, Schafe laufen über die Weide und auf den Feldern wird Gemüse angebaut.

Der Themenbereich “Waggonway”, in dem die Entstehung der Eisenbahn thematisiert wird oder die “Pockerley Old Hall”, in der Besucher in das ländliche Leben im frühen 19. Jahrhundert eintauchen können, gehören zu den ältesten Themengebieten des Museums. In die gleiche Periode fallen das gerade erst eröffnete “Quilter’s Cottage” sowie die benachbarte Kirche. Dieses ursprünglich in Eston errichtete Gotteshaus, verfiel am originalen Standort und wurde schließlich im Museum in dem Zustand, in dem es 1822 gewesen ist, neu errichtet.
Das Konzept hat dafür gesorgt, dass die Besucherzahlen stetig gestiegen sind. In der Saison 2017/2018 wurde mit 764.675 Gästen ein neuer Rekord erzielt. Künftig wird das Beamish Museum ein weiteres Themengebiet bekommen. Eine Stadt aus den 1950er Jahren wird bereits gebaut.
Dieser Artikel erschien am 7. April 2019 auch in den Osnabrücker Nachrichten.
Ein PDF davon kann HIER heruntergeladen werden.
Ach wie schön! Du passt von den Klamotten her überhaupt nicht zu den Herren von dem oberen Foto! ;-)
Ich mag solche Museen – gerade das Leben damals hat unsere Welt ja geprägt, Industrialisierung usw., das ist super spannend, so etwas quasi als Zeitreise mit zu erleben. Danke für den schönen Artikel!
:-) Danke! Vielleicht sollte ich das als Anregung nehmen, mich beim nächsten Mal kleidungstechnisch etwas dem damaligen Stil zu nähern…
Liebe Grüße
Thomas
Hi Thomas,
also dein schon etwas gräulicher Bart paßt ganz gut in die Gegend.
An den Klamotten müßte evtl. noch gearbeitet werden;-)
Aber mal im Ernst, daß ist irgendwie eine Kulisse aus einem Miss Marple
Film, hat jedoch durchaus Charme.
Sehr sehr cool…
Schöne Grüße
Stefan
Maaaaann, Tobias, immer wenn ich denke, ja, so langsam kenne ich alles in England — Pustekuchen. Aber das ist eben genau das Schöne: es gibt dort so unendlich viel zu entdecken, dass ich immer wieder dort hinfahren kann. Deinen Schreibstil mag ich ja sowieso sehr, aber diesmal bin ich auch besonders geflasht von den Fotos — wie hast du es geschafft, dass das Oinkerlein so schön für dich posiert hat?
So und ich gucke mal, wann ich nach merry old England komme…als nächstes steht erstmal Wales auf dem Programm :)
Liebe Grüße aus Berlin,
Sandra
:-) :-) :-) Ohhh, das freut mich ja so richtig. Danke! Hätte kaum gedacht, dass ich noch über etwas auf der Insel berichten kann, das du noch nicht kennst. Das Schweinchen mochte mich wahrscheinlich einfach ;-)
Dir wünsche ich schon mal viel Spaß in Wales!
Liebe Grüße
Tobias, der eigentlich Thomas heißt ;-)