Dieser Artikel wurde zuletzt am 24. Dezember 2024 aktualisiert.
“Dann begann das schlechte Wetter. Es kam eines Tages, als der Herbst vorbei war.” So beginnt Ernest Hemingways “Paris – Ein Fest fürs Leben”. Die Schilderung hätte auch auf unsere Reise nach Paris zutreffen können, wäre sie nicht kurzfristig ins Wasser gefallen. Der Eurostar hatte unsere Zugverbindung in die französische Hauptstadt plötzlich gestrichen. Alternative Anreisen wären zu teuer geworden. Wir brauchten also schnell ein Ersatzziel für einen Kurzurlaub zur Weihnachtszeit.
Mit “Den Haag” gab es eine solche Alternative. Zwar würden uns hier die gebuchten Eintrittskarten für das Musee d’Orsay und andere bereits für Paris gebuchte und nicht mehr stornierbare Tickets nichts mehr nützen – doch Den Haag versprach einige gute Alternativen.
So kam es also, dass wir wenige Tage vor Weihnachten in Den Haag aus dem Zug stiegen und dann – ja, man kann es vielleicht erahnen – dann begann das schlechte Wetter. Während wir mit unseren Koffern durch den Regen zum Hotel liefen, fragte ich mich, ob auch Den Haag ein Fest fürs Leben sein könnte. Wenngleich das graue Nass etwas aufs Gemüt drückte, kam ich schnell zum Schluss, dass Den Haag das Potential dafür hat.
Die wenigen Meter vom futuristischen Bahnhof bis zum Hotel Moxy – das ich übrigens uneingeschränkt empfehlen kann – reichten aus, um einen ersten positiven Eindruck der Stadt zu bekommen. Was zunächst auffiel, war der Bahnhof. Er war nicht nur wunderschön weihnachtlich geschmückt, sondern zugleich auch modern und sauber. Auch bei früheren Besuchen in den Niederlanden fand ich besonders die Bahnhöfe immer sehr angenehm und im Vergleich zu den deutschen Bahnhöfen um einiges entspannter.
Wir haben im Hotel Moxy The Hague* übernachtet und waren damit sehr gut zufrieden. Es liegt ca. 5 Minuten vom Hauptbahnhof entfernt und auch bis zum zentralen Binnenhof mit dem Mauritshuis ist es ebenfalls nicht viel weiter. Eine bessere Lage gibt es wahrscheinlich nicht. Das Hotel ist insgesamt recht stylisch und modern. Einzig das Zimmer fand ich nicht sehr geschmackvoll eingerichtet. Aber das ist sicher Geschmacksache. Dafür haben mir die Lage und die Aussicht aus dem Zimmerfenster – mit Blick auf das gegenüberliegende Stadthaus und in Richtung Fußgängerzone – sehr gut gefallen.
Ein Bild, das sich auch draußen fortsetzt. In Den Haag findet man kein heruntergekommenes Bahnhofsviertel mit vielen zwielichtigen Gestalten – nein, man befindet sich in einem modernen Zentrum mit imposanter Architektur. Für einen kleinen Moment wähne ich mich in New York, als ich vor den Hochhäusern stehe. Wir sind hier in einem Regierungsviertel. In den Hochhäusern befinden sich das Innen- und das Justizministerium. Gleich daneben die Uni.
Mich hat dieser erste Blick auf Den Haag ziemlich überrascht und zugleich auch etwas an nordamerikanische Großstädte erinnert. Bei einem Besuch in Kanada habe ich abends ähnlich staunend aus dem Fenster meines Hotelzimmers in Winnipeg geschaut und das bunte Treiben rund um die benachbarten Hochhäuser beobachtet, wie ich es auch hier an den beiden Abenden während unseres Aufenthaltes getan habe.
Doch wir waren eigentlich nicht gekommen, um moderne Architektur zu bestaunen. Für mich war der Hauptgrund die Kunst. Das Goldene Zeitalter der Niederlande fasziniert mich. Klar, dass ich unbedingt auch einmal Vermeers weltberühmtes Mädchen mit dem Perlenohrring sehen wollte – und das hängt nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, in Amsterdam, sondern hier in Den Haag.
Das Gemälde hängt im Mauritshuis. Ein Museum, das sich selbst mit den Worten “Ein kleines Museum von Weltrang” bezeichnet. Treffender könnte man es sicher nicht formulieren. Denn das Museum ist wirklich nicht sehr groß. Dafür gibt es darin aber Kunst zu sehen, wie man sie sonst nirgendwo findet. Wer sich für die niederländische Malerei des 15. bis 18. Jahrhunderts interessiert, findet hier ein wahres Paradies an Schätzen. Darunter auch zahlreiche Meisterwerke des Goldenen Zeitalters. Allein von Rembrandt sind zehn Werke zu sehen.
Entsprechend groß war meine Vorfreude, als wir am Museum ankamen. Das ehemalige Adelspalais ist schon von außen sehenswert und bildet einen wunderschönen Kontrast zur modernen Silhouette Den Haags. Jetzt, zur Weihnachtszeit, steht ein großer Weihnachtsbaum mit goldenen Kugeln davor. Wenn jetzt noch der graue Nieselregen mit den immer wieder auffrischenden Windböen einem ruhigen Schneefall gewichen wäre – die perfekte Kulisse für ein Weihnachtsmärchen wäre angerichtet gewesen.
Doch auch ohne Winter-Wonderland hat mich das Museum begeistert. Gerade weil es so klein und kompakt ist, wird man mental nicht überfordert. Google verrät, dass man in der Regel 1,5 Stunden für einen Besuch im Mauritshuis braucht. Eine Angabe, die gut hinkommt. Wir waren vielleicht etwas länger dort, aber das lag auch daran, dass es mir auf den zwei Etagen so gut gefallen hat. Besonders die Werke von Rembrandt, die mich auch in vielen anderen Museen schon begeistert haben, haben bei mir für lange Verweildauer gesorgt. Den größten Teil der Zeit habe ich sicher in Saal 9 verbracht. Dort hängt eines der bedeutendsten und nach der berühmten Nachtwache sicher auch bekanntesten Werke Rembrandts: Die Anatomie des Dr. Tulp. Der junge Rembrandt schuf es mit 25 Jahren.
Während man anschließend durch weitere Räume schlendert und die ausgestellte Kunst bewundert, steht man irgendwann in einem kleinen Saal in der 2. Etage und hat das Bild, weswegen eigentlich alle kommen, direkt vor sich: Das Mädchen mit dem Perlenohrring. Es ist gerade Mittagszeit und nicht sehr viel los. Kein Gedränge, wie ich es z.B. im Louvre vor der Mona Lisa erlebt habe. Für einen Moment stehe ich sogar ganz alleine vor dem 45 cm hohen Bild mit dem wunderschönen goldenen Rahmen. Ich fühle mich in der Zeit versetzt, fast so, als hätte jemand die Uhr knapp 400 Jahre zurückgedreht und ich würde gerade einen Flirt mit einer niederländischen Dame beginnen.
Viel Zeit für den imaginären Flirt bleibt nicht. Schon kurze Zeit später sind wir nicht mehr unter uns. Links neben mir zückt eine asiatische Touristin ihr Handy für ein Selfie, rechts bestaunt ein junges niederländisches Paar die unbekannte Dame auf dem Gemälde. Ich verabschiede mich, drehe mich einmal um die eigene Achse und nach vier oder fünf Schritten stehe ich vor einem weiteren weltberühmten Werks von Vermeer: Die Ansicht von Delft. Auch dieses etwas größere Bild, das übrigens eines von nur zwei erhaltenen Werken Vermeers ist, das eine Außenansicht zeigt, fesselt mich. Schon beim Anblick der wunderschön komponierten Szene freue ich mich, dass wir für den kommenden Tag einen Ausflug nach Delft eingeplant haben.
Bevor wir das Museum wieder verlassen und noch eine Runde durch den hauseigenen Shop drehen, werfen wir einen Blick auf die übrigen Kunstwerke. Darunter z.B. auch der Distelfink des Delfter Malers Carel Fabritius oder verschiedene Werke von Rubens – u.a. eine gemeinsame Arbeit von ihm mit Jan Brueghel dem Ältere: Der Garten Eden mit dem Sündenfall. Mich zieht aber vor allem ein Bild in seinen Bann. Es ist eine Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern von Hendrick Avercamp. Nicht nur die künstlerische Umsetzung mit dem leichten Nebel über dem zugefrorenen Gewässer fasziniert, es ist auch der Blick in den Alltag des 17. Jahrhunderts und der damaligen Mode.
Allen Leseratten, die sich für Geschichten rund um die Kunst im Mauritshuis interessieren, kann ich zwei Bücher ganz besonders empfehlen. Zum einen ist es das Buch “Rembrandts Geliebte” von Simone van der Vlugt*. Ich habe mir das Buch gekauft, nachdem ich kürzlich im Rembrandhaus in Amsterdam war. In dem dramatischen Roman wird auf äußerst spannende Art in das Leben Rembrandts, von dem im Mauritshuis mehrere Werke hängen, und seiner Frauen entführt. Das zweite Buch, das ich sehr empfehlen kann, ist der Roman “Das Mädchen mit dem Perlenohrring” von Tracy Chevalier*. Es ist ebenso spannend und versetzt den Leser in die Zeit von Vermeer. Das Buch diente als Grundlage der gleichnamigen Verfilmung* aus dem Jahre 2003, die für drei Oscars nominiert wurde. In ihr spielte Scarlett Johansson das Mädchen mit dem Perlenohrring und Colin Firth Jan Vermeer.
Unsere heutige Mode ist eher praktisch und dem Wetter angepasst. Vor dem Museum hat zwar der Nieselregen aufgehört, doch es weht immer noch ein unangenehmer Wind. Wir umrunden das Mauritshuis, spazieren an einem Gewässer vorbei und bewundern dabei ein dahinter liegendes altes Gebäude, das mich irgendwie etwas an den Westminster Palace am Ufer der Themse in London erinnert. Dass tatsächlich eine Gemeinsamkeit besteht, zeigt sich, als ich auf meinem Handy nach Infos über das Gebäude suche. Es ist der sogenannte Binnenhof und, ähnlich wie in London, ebenfalls Sitz eines Parlamentes – und das schon seit 1446.
Leider wird der Binnenhof gerade renoviert und ist nicht zugänglich. Damit man trotzdem einen Blick hineinwerfen kann, wurde ein quietschgelber Aussichtsturm direkt daneben errichtet. Wir steigen ihn hoch und haben aus 28 Metern Höhe ein großartiges Panorama. Von hier oben wirkt der Kontrast aus alten und neuen Gebäuden noch einmal eindrucksvoller. Und das Beste: Neben dem Aussichtsturm steht eine Fischbude. Dort gibt es auch Kibbelinge. Die frittierten Fischfiletstücke gehören bei mir eigentlich bei jedem Besuch in den Niederlanden dazu. Auch hier haben sie hervorragend geschmeckt.
Den Haag ist eine Stadt der kurzen Wege. Die Sehenswürdigkeiten liegen alle nah beieinander. Wir machen einen Abstecher in die umliegenden Einkaufsstraßen und müssen auch bis zum Platz mit dem Royal Christmas Fair nicht weit laufen. Es handelt sich dabei, laut Beschreibung des Veranstalters, um den schönsten Weihnachtsmarkt der Niederlande. Auch wenn mir die Vergleichsmöglichkeiten fehlen, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass dieser Superlativ nicht völlig aus der Luft gegriffen ist.
Der Weihnachtsmarkt wirkt irgendwie vertraut und doch ist er ganz anders als unsere deutschen Weihnachtsmärkte. An den zahlreichen Buden gibt es komplett unterschiedliche Dinge. Dazu eine Bühne, auf der weihnachtliche Chöre auftreten, Lagerfeuer, Weihnachtsmänner und Elfen, Sitzgelegenheiten, dazu tausende Lichter – insgesamt eine richtig schöne Atmosphäre. Auch kulinarisch gibt es hier eine große Abwechslung. Wie wäre es z.B. einmal mit einem Käsefondue oder einem Texel-Bier? Wer will, bekommt aber auch eine German Bratwurst für 6,50 Euro.
In bester Weihnachtsstimmung ging es für uns anschließend wieder zurück zum Binnenhof, um dort in die dunkle Seite der Geschichte abzutauchen. Ein Besuch im Gevangenpoort stand auf dem Programm. Einst bildete dieses Gebäude das Haupttor des Schlosses der Grafen von Holland und wurde als Gefängnis genutzt. Mit 15 Euro ist der Eintritt zwar nicht ganz günstig, lohnt sich aber. Man kann dort gut nachvollziehen, wie Bestrafungen früher aussahen. Dazu gibt es einen Einblick in Folterkammern und dunkle Zellen. Irgendwann steht man vor einer Guillotine, sieht aber auch Luxuszellen für wohlhabende Gefangene, wie des Staatsmannes Cornelis de Witt, der hier inhaftiert war und anschließend vor dem Gefängnis gelyncht wurde.
Wir bewundern schließlich die besondere Stimmung rund um den Binnenhof zur einsetzenden Dämmerung, machen erneut einen kurzen Abstecher zum Weihnachtsmarkt und gönnen uns eine Pizza in einem Restaurant direkt neben unserem Hotel. Hier hatten wir spontan Glück und einen Platz bekommen. In anderen Restaurants hatten wir zuvor weniger Glück. An einem Samstagabend war ohne Reservierung kaum irgendwo etwas frei.
Der nächste Tag begann, wie auch der vorherige – mit Nieselregen. Richtig ungemütlich war es. Wir stiegen in den Zug ins nur wenige Minuten entfernte Delft und ich erfreute mich dort erneut an den schön weihnachtlich geschmückten niederländischen Bahnhöfen. Welch wohliger Kontrast zum tristen Grau vor der Tür!. Da der Regen nicht aufhörte, beschlossen wir zunächst ein Museum zu besuchen. Wir liefen zum Royal Delft Museum De Porceleyne Fles. Hierbei handelt es sich um ein Museum, in dem die berühmten Delfter Keramiken gewürdigt werden. Im Goldenen Zeitalter der Niederlande gab es 23 Fabriken, die die Produkte mit ihren blauen handbemalten Verzierungen herstellten. Heute ist nur noch diese eine Fabrik aus dem 17. Jahrhundert übrig.
15 Euro Eintritt pro Person wechselten ihren Besitzer und wir betreten das familiär wirkende Museum. Ich fühle mich erinnert an einen nur wenige Tage zurückliegenden Besuch im sächsischen Meißen, wo wir auf der Albrechtsburg in einer Ausstellung zum Meissener Porzellan waren. Hier in Delft schließt sich gewissermaßen der Kreis. In den Niederlanden kam im Goldenen Zeitalter das aus Asien importierte Porzellan in Mode. Selbst herstellen konnte man es in den Niederlanden zu dieser Zeit noch nicht. Stattdessen entstanden die bis heute beliebten Töpferwaren.
Ausgestellt sind im Museum alle möglichen Formen des Delfter Blau. Von Alltagsgegenständen bis hin zu riesigen Wandbildern. Eines davon zeigt eine Nachbildung von Rembrandts Nachtwache auf kleinen Kacheln. Eine Museumsmitarbeiter verrät mir, dass man dieses Werk auch kaufen könne. Nach dem Preis frage ich lieber nicht und fühle mich bestätigt, als ich später im Museumsshop vor einem 85 cm hohen handbemalten Keramik-Apfel stehe, der schlappe 45900 Euro kostet.
Statt zu kaufen, begnüge ich mich mit Anschauen. Zu sehen gibt es u.a. auch das Tafelgeschirr, das die niederländische Königsfamilie bei offiziellen Banketten benutzt. Ich beginne zu träumen. Mal bei einem solchen Anlass dabei sein und von diesem Geschirr zu speisen, muss schon etwas ganz Besonderes sein. Doch auch hier muss ich mich dann wieder auf die Version für die bürgerliche Fraktion beschränken: Im Museumscafé gibt es ein Stück Kuchen und einen Kaffee – immerhin mit originalem Delfter Geschirr.
Am spannendsten fand ich, dass der Museumsrundgang auch durch die Produktionshallen der Manufaktur führt. Überall stehen halbfertige Keramiken herum. An einem Tisch sitzt eine junge Niederländerin und bemalt eine etwa 40 cm hohe Tischuhr. Wie sie so konzentriert arbeitet, traue ich mich kaum, sie zu stören, frage dann aber doch, wie lange sie für die komplette Bemalung einer solchen Uhr benötigt. “Zwei bis drei Tage”, ist ihre überraschende Antwort. Ich beginne zu erahnen, warum die Produkte alle so teuer sind. Für eine derartige Uhr werden knapp 4000 Euro aufgerufen.
Ich schaue im Museumsshop, ob ich irgendein günstigeres Mitbringsel finde, denn ich mag dieses Delfter Blau total. Doch selbst die nicht handgemalten Stücke sind sehr teuer. Kurz überlege ich noch, ob ich Tannenbaumkugeln mitnehme, beschließe dann aber den Kauf auf den nächsten Besuch in Delft zu verschieben.
Doch Delft ist natürlich nicht nur Delfter Blau. Delft ist auch die Stadt von Vermeer. Ja, genau! Das ist der, der das Mädchen mit dem Perlenohrring gemalt hat. Auch wenn nicht viel über ihn bekannt ist, wissen wir, dass er sein ganzes Leben in Delft verbracht hat. Sein Grab befindet sich in der Oude Kerk. Auch wir machen einen Abstecher in die Kirche. Mir gefällt nicht nur die besondere Architektur mit ihren Verzierungen, mir gefällt vor allem, dass in der Kirche Leben herrscht. Von der fast schon gespenstischen Stille in anderen Kirchen ist hier keine Spur. Eine Menschengruppe scheint eine Weihnachtsfeier abgehalten zu haben, steht gesellig beisammen, trinkt Glühwein, alle unterhalten sich angeregt. Die Kinder toben umher.
Wir verlassen die Kirche wieder, kommen hinter ihr an einem Hinweisschild vorbei, das davon zeugt, dass sich hier einst das Wohnhaus Vermeers befand und stehen dann auf dem Marktplatz mit der imposanten 109 Meter hohen Nieuwe Kerk. Auch in ihr tollen Kinder umher, in einer anderen Ecke probt ein Chor, Menschen stehen beisammen, trinken und haben Spaß. Fast herrscht schon Lärm. Zunächst wirkt es etwas befremdlich, aber mir gefällt es.
Die Nieuwe Kerk ist nicht nur eine der größten Kirchen der Niederlande, sondern auch die Grabeskirche des niederländischen Königshauses. 45 Angehörige der Dynastie sind hier beigesetzt. Hinter dem Altar ist ein oranger Teppich für Besucher ausgerollt. Wer ihn beschreitet, wird vorbeigeführt an der royalen Geschichte des Landes. Mehrere Infotafeln und sehenswerte Grabmale hinterlassen Eindruck. Das imposanteste steht am Ende des orangenen Teppichs: das monumentale Grabmal von Wilhelm von Oranien, jenem Volkshelden, der die spanische Fremdherrschaft in den Niederlanden beendete und die nördlichen Provinzen in die Unabhängigkeit führte. Der Vater des Vaterlandes, so sein offizieller Titel, wurde 1584 in Delft ermordet.
Schon Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring könnte von dem Grabmal beeindruckt gewesen sein. Tracy Chevalier schreibt in ihrem lesenswerten Roman “Das Mädchen mit dem Perlenohrring”*: “Ich schlich in den riesigen Bau und kam mir dabei vor wie eine Maus, die sich im Haus eines Reichen versteckt. Im Inneren war es kühl und dämmrig, die glatten, runden Säulen ragten in die Höhe, die Decke schwebte so hoch über mit, dass sie mir beinahe wie der Himmel vorkam. Hinter dem Altar stand das prachtvolle Marmorgrabmal von Wilhelm von Oranien.”
Als wir vor die Kirche treten und unseren Blick über den großen Platz mit dem auf der anderen Seite befindlichen Rathaus schweifen lassen, kann ich mir gut vorstellen, dass es zu Vermeers Zeit hier fast genauso ausgesehen haben mag. Wir streifen etwas umher, werfen einen Blick in die Souvenirgeschäfte, die den Platz säumen und kommen schließlich auch am Haus der Lukasgilde, in der Vermeer Mitglied war, vorbei. Heute ist in dem Museum das Vermeer Centrum Delft untergebracht. Hier sparen wir uns allerdings den Eintritt und machen uns auf den Rückweg zum Bahnhof.
Wir fahren wieder nach Den Haag, steigen dort in die Straßenbahn und gelangen mit ihr schließlich in ca. 15 Minuten nach Scheveningen – einem Ort an der Nordseeküste. Der erste Blick fällt direkt auf das Kurhaus – ein monumentales Gebäude aus dem Jahre 1818, in dem heute ein Luxushotel untergebracht ist. Auch hier ist alles weihnachtlich geschmückt. Vor dem Kurhaus ziehen Schlittschuhläufer auf einer Eisbahn ihre Runden. Direkt daneben steht ein riesiges Casino mit glitzernder Fassade. Scheveningen ist Nordsee, Scheveningen ist aber zugleich auch Vergnügungsviertel. Irgendwie eine Art Disneyland. Ein Eindruck, der sich bestätigt, als wir zum Pier gehen.
Hier am Pier steht auch das bekannte Riesenrad, mit dem man seine Runden über den Wellen des Meeres drehen kann. Dazu ein Kran, von dem Bungeespringer nach unten hüpfen sowie zahlreiche Imbissbuden, Souvenirstände, Spielautomaten ect. Die Atmosphäre hier ist eine besondere. Von unberührter Natur definitiv keine Spur. Irgendwie gefällt es mir trotzdem. Ich schaue aufs Meer hinaus, verfolge die am Strand brechenden Nordseewellen und frage mich, wie es hier wohl vor knapp 150 Jahren gewesen sein mag, als Van Gogh am Strand von Scheveningen einige Gemälde und Skizzen schuf. Der heutige Beton-Charme mit den vielen hässlichen Hotelklötzen dürfte ihm damals noch erspart geblieben sein.
Leider ist es schon recht spät und wir bleiben nur kurz in Scheveningen. Noch schnell einen Burger auf dem Pier gegessen, ein paar Selfies geschossen und zurück mit der Straßenbahn ins Zentrum von Den Haag. Wir wollen noch der königlichen Familie einen Besuch abstatten. Wir schlendern durch die royalen Shoppingstraßen, in denen es überall weihnachtlich glitzert. Dazu an vielen Ecken goldene Kronen – ein tolles Bild.
Unser Ziel ist der Königspalast Noordeinde, der Arbeitspalast von König Willem-Alexander und Königin Máxima. Als wir ankommen, scheint der König bereits Feierabend zu haben oder vielleicht im Homeoffice zu sein. Im Palast brennt nirgendwo Licht. Trotzdem sieht es beeindruckend aus. Etwas Glamour und doch alles sehr bodenständig. Eine Reiterstatue, ein Balkon vor dem Palast – in meinem Kopf spielen sich Bilder von Staatsempfängen und Krönungen ab. Insgeheim hoffe ich, dass der König vielleicht doch noch einmal vorbeischaut. Erst später erfahre ich, dass auf dem Palast eine Fahne weht, wenn er sich im Land aufhält. Bei unserem Besuch wehte nichts. Er wird wohl im Ausland gewesen sein.
Und damit endete dann schon fast unser kurzer Aufenthalt in Den Haag. Wir schlenderten noch etwas durch die abendlich beleuchtete Stadt, lauschten den Rufen der unzähligen Papageien, die abends rund um den Binnenhof in den Bäumen sitzen, probierten auf dem Weihnachtsmarkt Raclette und fuhren am nächsten Vormittag, nach einem kurzen Besuch im Rathaus, wo Szenen für den Film Ocean’s 12 gedreht wurden, wieder nach Hause. Was bleibt, ist die Frage, ob nach der geplatzten Paris-Reise Den Haag ein guter Ersatz war – ob die Stadt ebenfalls, so wie Hemingway es für Paris formulierte, ein Fest fürs Leben ist. Für mich war es das definitiv! Mir hat der Mix aus Tradition und Moderne total gefallen. Die Spuren des Goldenen Zeitalters, die neuartige Architektur – dazu der königliche Glamour. Was will man mehr?
Hemingway schrieb in “Paris – Ein Fest fürs Leben”: “Wir sind immer dorthin zurückgekehrt, egal, wer wir waren oder wie es sich verändert hatte oder unter welchen Schwierigkeiten oder mit welcher Bequemlichkeit es zu erreichen war.” Auch ich werde nach Paris zurückkehren – wenn der Eurostar nicht wieder die Verbindungen streicht. Ich werde aber sicher auch nach Den Haag zurückkehren. Denn zu entdecken gibt es dort noch so viel mehr. Glaubt man zunächst, man hat dort schon alles gesehen, bleiben bei näherer Betrachtung noch genügend Highlights für weitere Besuche.
Was ich unbedingt noch sehen will, ist z.B. der Friedenspalast mit dem internationalen Gerichtshof, der königliche Wartesaal im Bahnhof, der Miniaturenpark Madurodam, der historische Palastgarten, der Binnenhof von innen, die königlichen Stallungen oder der Palast Huis ten Bosch. Ich will auf den Turm der Grote Kerk steigen und von dort das Panorama mit der unvergleichlichen Skyline genießen. Außerdem jene Orte besuchen, die Van Gogh während seiner Zeit in Den Haag besuchte. Ähnlich, wie ich es vor einiger Zeit bereits in Nuenen getan habe. Ich würde gerne herausfinden, ob es in Scheveningen auch naturbelassene Orte gibt und wie es dort in den Dünen aussieht. Vielleicht ja sogar einmal in den beiden ganz besonders erscheinenden Hotels, dem Hotel im Kurhaus und dem Hotel auf dem Pier, übernachten.
Ebenso möchte ich auf jeden Fall gerne wieder nach Delft. In die Stadt Wilhelm von Oranjens und Johannes Vermeers sowie des Delfter Blaus. Im Museum Prinsenhof würde ich gerne die Einschusslöcher sehen, die noch heute vom Anschlag auf den Vater des Vaterlandes zeugen, ich würde gerne das einzig erhaltene Stadttor das Osttor sehen, auf den Turm der Nieuwe Kerk steigen und von oben die Aussicht genießen und in einem Workshop ausprobieren, wie es ist, selbst Keramik mit dem Delfter Blau zu verzieren. Womit wir auch direkt beim Thema wären, weswegen ich auf jeden Fall wieder nach Den Haag muss: Ich will doch unbedingt an einem Bankett mit dem König und dem wunderschönen royalen Delfter Geschirr teilnehmen.
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